Gertrudis tripartita
Im Falle der hl. Gertrud wird immer wieder von der „Gertrudis tripartita" (dreigeteilte Gertrud) gesprochen; dieser Begriff spielt auf die drei Traditionsstränge in der Überlieferung an – die der Gertrud von Nivelles, der Gertrud von Karlburg und der Gertrud von Neustadt. Grundlage bildet die historische Gertrud von Nivelles, deren Leben historisch belegbar ist; wichtigstes Dokument ist die „Vita sanctae Geretrudis", die bereits um 670, also wenige Jahre nach Gertruds Tod, geschrieben wurde. Mit dem Aufleben der Gertrudverehrung in Franken entwickelte sich rund um Karlburg und Neustadt am Main ein ganz eigener Kranz von Geschichten und Legenden. So erzählt die „Passio sancti Kiliani maior" (um 850) die Geschichte von der Flucht Gertruds vor einem ungeliebten Freier nach Karlburg, wo sie ein Kloster gründete. In der „Vita Burkardi" des Ekkehard von Aura aus dem 12. Jahrhundert wird Gertrud im Zusammenhang mit dem Imminatausch erwähnt. In Neustadt am Main montierte man Gertrud sogar ganz bewusst in die Ortsgeschichte ein, um sich der Machtansprüche seitens des Bischofs von Würzburg zu erwehren. Bis zu welchem Grad diese Legenden der historischen Wahrheit entsprechen, ist heute nicht mehr nachvollziehbar, ein Fünkchen Wahrheit steckt nach Ansicht des Gertrudenkenners Jürgen Emmert jedoch in jedem Fall darin.
Die historische Gertrud von Nivelles
Die heilige Gertrud von Nivelles (auch Gertrudis, Gertraud, Gerda) wurde 626 in Landen (südöstlich von Brüssel / Belgien) geboren. Sie war die Tochter des austrischen Hausmeiers Pippin I. (von Landen) dem Älteren und seiner Frau Itta (Iduberga) von Nivelles; Gertruds Schwester Begga heiratete später den Herzog von Ansegisel, aus dessen Geschlecht 100 Jahre später Kaiser Karl der Große hervorging.
Ihre Kindheit verbrachte Gertrud auf der Königspfalz der Merowinger. Schon als junges Mädchen sollte sie eine standesgemäße Hochzeit mit dem fränkischen Herzog Rigulf eingehen, was sie jedoch vehement ablehnte. So soll sie stolz verkündet haben: „Nicht diesen, nicht einen anderen. Ich schwöre, dass ich keinen zum Gemahl haben werde als allein Christus, den Herrn."
Nach dem Tod ihres Vaters Pippin im Jahr 640 bat Bischof Amandus von Utrecht Gertruds Mutter Itta, ein Kloster zu errichten. Itta kam diesem Rat nach und gründete das Kloster Nivelles in Südbrabant (25 km südlich von Brüssel); gemeinsam mit ihrer 14-jährigen Tochter trat Itta als erste in ihre Klostergründung ein. Gertrud indes musste sich auch weiter heiratswilliger Freier erwehren. So heißt es, dass ihre Mutter Itta ihr die Haare „wie eine Krone" abschnitt und sie im Kloster versteckte.
Legendäre Gründerin des Klosters Karlburg
Der Legende nach floh Gertrud deshalb nach Franken und gründete in Karlburg am Main, das seinerzeit übrigens ein bedeutender Zentralort war, eine Benediktinerinnenabtei, die der Muttergottes Maria geweiht war. Stimmt dies, dann wäre das Marienkloster in Karlburg eines der ersten Klöster im mainfränkischen Raum, das noch vor der Missionierung durch die drei Frankenapostel entstanden ist. In Karlburg gab es der Überlieferung nach die erste Schule Frankens, in der Jungen und Mädchen von einem Geistlichen namens Atalong unterrichtet wurde. 100 Jahre nach der legendären Gründung trat das Karlburger Marienkloster übrigens im Zusammenhang mit der Bistumsgründung und dem Imminatausch nochmals ins Licht der Geschichte.
Von Karlburg aus soll Gertrud beinahe täglich auf dem Gertraudenpfad nach Rorinlacha (dem heutigen Neustadt am Main) gelaufen sein, um eine weitere Klostergründung vorzubereiten. Eines Tages soll sie auf ihrem Weg unweit des heutigen Ortes Waldzell von großem Durst geplagt worden sein und bohrte ihren Stab in die Erde; sogleich entsprang an dieser Stelle eine Quelle.
In Neustadt, wo die heilige Gertrud ebenfalls verehrt wird, hat es allerdings um die Mitte des 7. Jahrhunderts noch gar kein Kloster gegeben. Auf dem Michaelsberg befand sich lediglich ein burgähnlich befestigtes Jagdschloss der karolingischen Hausmeier, das wohl auch eine kleine Kapelle besaß. Das Benediktinerkloster Neustadt am Main wurde erst später, nämlich um das Jahr 770, vom zweiten Würzburger Bischof Megingoz gegründet. Der Gertrud-Kult wurde höchstwahrscheinlich ab dem 12. Jahrhundert ganz bewusst zur Sicherung von politischen Ansprüchen des Klosters Neustadt aufgebaut: So machte man Gertrud anhand einer gefälschten Urkunde zur Schwester Karls des Großen; als weitere „Beweise" führte man angebliche Abdrücke von Ellbogen, Knie und Füßen der heiligen Gertrud bei der Kapelle auf dem Michaelsberg und den legendären Gertraudenmantel an, der bis heute in der Sakristei der Neustädter Abteikirche aufbewahrt wird.
Äbtissin und Wohltäterin von Nivelles
Nach diesem Intermezzo in Franken kehrte Gertrud in ihre Heimat zurück. Nach dem Tod ihrer Mutter Itta im Jahr 652 wurde sie – hier bewegen wir uns wieder auf historisch gesichertem Gebiet – Äbtissin des Klosters Nivelles. Sie soll eine hoch gebildete Frau und hervorragende Kennerin der Bibel gewesen sein; immer wieder – so heißt es – ließ sie sich geistliche Literatur aus Rom kommen. Gertrud wollte auch Mädchen die Heilige Schrift zugänglich machen und berief sogar irische Mönche (!) nach Nivelles, die ihren Mitschwestern die Heilige Schrift auslegen sollten. Daneben lagen Gertrud auch die Kranken und Sterbenden am Herzen; außerdem kümmerte sie sich ganz im Zeichen der christlichen Nächstenliebe um Witwen, Pilger und Gefangene und gründete eines der ersten Pilgerhospize.
Helferin gegen Mäuse und Seeungeheuer
Eine Episode in der Vita der hl. Gertrud berichtet von Schiffsreisenden, die im Auftrag Gertruds unterwegs waren: Als diese auf der Fahrt von einem Meeresungeheuer bedroht wurden, flehten sie Gertrud um Hilfe an und sofort verschwand das Ungeheuer. Eine (vermutlich später entstandene Legende) erzählt überdies, dass Gertrud das Land einmal allein durch ihr Gebet von einer Mäuse- und Rattenplage befreit und so den Ernteertrag gerettet haben soll; auch Mäuse, die sie beim andächtigen Spinnen störten, vertrieb sie.
Gertrud starb am 17. März 659 im Alter von 33 Jahren in Nivelles; ihr Todestag, den ihr ein irischer Mönch exakt prophezeit hatte, ist der Tag des irischen Nationalheiligen St. Patrick. Gertrud wurde im Kloster Nivelles bestattet und bereits kurz nach ihrem Tod wie eine Heilige verehrt; zahlreiche Kirchen wurden ihrem Patronat unterstellt, immer wieder wurden der Vita Mirakel und Wunderberichte beigefügt.